She’s got the look
Es ist passiert. Gestern Abend im Snooker-Salon. Ich sehe einem marokkanischen Hipster mit Hut und Bärtchen und seiner jungen, schönen Gegnerin beim Spielen zu. Sie: lange glatte schwarze Haare, gertenschlank, anmutig in ihren Bewegungen und sie spielt auch noch gut. Es macht mir Spaß zuzuschauen. Dann sieht sie mir in die Augen, ein kurzes Lächeln umspielt ihre Lippen und es trifft mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Die ist es! Die will ich! Jetzt! So kreischen die Stimmen in mir unwillkürlich. Und das mir, dem das eigentlich nie passiert, dieses spontane, unbändige Begehren, dieses unbedingte Habenwollen aus dem Moment heraus.
In Homers Gefolge
Wie nennt man das eigentlich? Liebe auf den ersten Blick passt ja nicht, weil zu Liebe immer zwei gehören, weil Liebe auf Gegenseitigkeit beruht. Auch nach längerem Nachdenken finde ich kein passendes deutsches Wort für dieses Phänomen, am ehesten scheint es noch das englische „She’s got the look“ zu treffen. Aber warum gibt es diesen Effekt überhaupt? Das bringt doch nichts als Ärger? Betroffene in früheren Zeiten satteln ihr Pferd, reiten ins Nachbardorf, rauben das Objekt ihres Begehrens und lösen damit womöglich kriegerische Konflikte aus. Homers Geschichte von Paris und der schönen Helena lässt grüßen und beweist zugleich, dass das Phänomen durchaus Tradition hat.
Jetzt Stalker werden?
In der Gegenwart ist das mit dem spontanen Frauenraub alles andere als einfach und so neigen die „vom Blitz des allumfassenden Begehrens“ Getroffenen in ihrer Not heute eher dazu, das zu betreiben, was man neudeutsch auch als Stalking bezeichnet. Also „das willentliche und wiederholte Verfolgen oder Belästigen einer Person, deren physische oder psychische Unversehrtheit dadurch unmittelbar, mittelbar oder langfristig bedroht und geschädigt werden kann“, wie die Wikipedia erklärt. Dazu muss man allerdings ganz schön fleißig sein, denn „um als Stalkingopfer kategorisiert zu werden, müssen mindestens zwei verschiedene, die Privatsphäre verletzende Verhaltensweisen berichtet werden, wobei diese durchgehend mindestens acht Wochen andauern und Angst auslösen mussten“. Wahnsinn, oder?
Den Augen-Blick loslassen
Um das gleich mal klarzustellen – ich persönlich werde natürlich einen Teufel tun und dieser jungen Schönheit nachstellen, deren einziges Vergehen darin bestand, mich diesen einen Sekundenbruchteil zu intensiv angesehen zu haben. Man muss nicht Paul Watzlawicks „Anleitung zum Unglücklichsein“ gelesen zu haben, um zu wissen, dass es keinen Sinn macht, diesen Moment in realiter zu vertiefen. Ich werde – ganz im Gegenteil – in den kommenden Tagen, bis ich meinen Flieger zurück nach Deutschland besteige, den Ort dieser Begegnung meiden. Den Rest überlasse ich dann der Gnade des schwindenden Gedächtnisses, das zwischen den Klippen der Tage, Wochen und Jahre dieses Ereignis zu dem einschleifen wird, was es auf Dauer sein sollte: ein runder, großartiger Moment.