Bist du schwul?

„Bist du schwul?“ Genau genommen interessiert mich die Antwort nicht. Was mich interessiert ist, was mit dir passiert, wenn du diese Frage hörst. Bekäme ich die Frage gestellt, würde ich ganz einfach mit „Nein“ antworten und fertig. Ganz unaufgeregt, weil ich es weiß.

Dabei gab es Zeiten, wo ich mir nicht ganz sicher war. Als Student hielt ich es immerhin für möglich, bisexuell zu sein. Das wollte ich herausfinden. Mein bester Freund war ähnlich „verrückt“ wie ich und machte mit. Wir schlossen uns also in unserer Bude ein, legten uns nur mit Unterhose bekleidet aufs Bett und begannen, uns zu streicheln. Das verlangte eine Menge Überwindung, aber irgendwie klappte es einigermaßen. Ihm erging es ähnlich. Aber alles Streicheln half nichts, keiner von uns konnte weder in sich noch im anderen einen Funken Erotik entdecken bzw. zünden. Also zogen wir uns nach einer Stunde vergeblichen Streichelns wieder an und gingen auf ein Bier.

Heute, rund 40 Jahre später, kann ich mir immerhin vorstellen, dass es einem mir attraktiven und homosexuellen Mann gelingen könnte, mich zu verführen. Aber es wäre vermutlich ein Phyrrussieg von kurzer Dauer. Ich kann Männer sympathisch und attraktiv finden, das war’s dann aber auch. Mich in einen Mann verlieben – undenkbar.

Und was würde in dir geschehen, lieber Leser, liebe Leserin, wenn man dir die Frage stellte? Wärest du empört über den Gedanken (sofern du nicht homosexuell bist)? Die meisten Menschen wären es wohl, denn „schwul“ ist nach wie vor in weltanschaulich einfach gestrickten Kreisen ein funktionierendes Schimpfwort. Natürlich auch auf Schulhöfen. Schon Grundschüler beschimpfen sich damit ausgesprochen erfolgreich.

Das ist nicht nur so, weil Homoesexualität nicht die biologische Regel ist. Ein weiterer Grund ist in unserer Vergangenheit zu suchen. Homosexualität wurde von den Nazis massiv verfolgt. Heute schätzt man die Zahl der zwischen 1933 und 1945 strafrechtlich Verfolgten auf rund 70.000. Schwule kamen ins Gefängnis oder ins KZ und wurden systematisch gedemütigt. Der berühmt berüchtigte Paragraph 175 des Strafgesetzbuches war der einzige Nazi-Verfolgten-Paragraph, den die Bundesrepublik 1:1 beibehielt. Mit anderen Worten: Die Nazimentalität Homosexuellen gegenüber wurde 1:1 ins bundesrepublikanische Denken der Menschen überführt und für gutgeheißen. Im großen gesellschaftlichen Kontext schwärt das böse Vorurteil nach wie vor, auch wenn es nicht mehr strafbar ist, wenn ein Mann einen Mann oder eine Frau eine Frau liebt. Und genau dieser gedankliche Schwefeldampf der Vergangenheit steigt uns von innen in die Nase, wenn uns jemand fragt: „Bist du schwul?“