von Claudio Hermani, Hermani Heritage

Kim erwachte durch einen Sonnenstrahl, der ihr durch den Spalt zwischen den schweren leinenen Vorhängen auf die Augenlider gewandert war.

Es dauerte einen winzigen Augenblick, bevor sie das Zimmer erkannte, einen weiteren, um zu denken, dass doch eigentlich schlechtes Wetter angesagt war.

Sie sprang aus dem Bett, zog beide Stores zur jeweiligen Seite, öffnete die Glastüren und trat auf den Balkon.

Sie jauchzte, begeistert von den riesigen, weißen Bergen, dem tiefblauen Himmel, der eiskalten Luft, deren sauberer Duft sie sofort in ihre Kindheit beförderte und ebenso schnell erschaudern ließ.

 

Die Wohnung ihrer Freunde war gut ausgestattet, sie fand eine kleine, altmodische Espressomaschine auf dem Herd, Kaffee hatte sie am Abend vorher im Dorfladen gekauft, zusammen mit Bündnerfleisch, Bergkäse, guter Schweizer Butter, knusprigen Bürli und ein paar Flaschen Veltliner.

Sie hatte den Kamin angemacht, ein weiterer Duft, der ihr fehlte, und das Abendessen genossen. Alleine, ohne TV oder Radio, nicht einmal Musik hatte sie angestellt, um das Knistern des Feuers besser hören zu können – und die Stille des Hauses.

Was ihr überhaupt nicht fehlte, war Robert.

Nicht sein Fahrstil auf dem Weg hierher, nicht seine Hilfe beim Herauftragen der Taschen, nicht sein exakt 50%-Beitrag beim Einkaufen.

Und nicht den Sex mit ihm, bei dem er sich, ähnlich wie beim Autofahren, zwar zielstrebig zeigte, aber auch eigensüchtig, zu schnell, an anderen Verkehrsteilnehmern uninteressiert.

 

Im Keller fand sie passende Skischuhe, Skier, Stöcke und war tatsächlich vor neun Uhr aus dem Haus.

Auf dem Weg zur Talstation der großen Seilbahn hatte sie am Abend vorher einen Sportladen gesehen, wo sie die Bindung auf ihr Gewicht einstellen ließ.

Die Tageskarte war wirklich sehr teuer, als Kind hatte ein Abonnement für die ganze Saison gerade drei Mal so viel gekostet; sie hatte einmal einen ganzen Winter hier oben verbracht, mit ihrem Vater, der das immer so machte.

Das Wetter hatte sich nun doch zum Schlechteren geändert, ab einer gewissen Höhe fing es an zu schneien, und auch der Wind nahm zu.

Als sie oben angekommen war, überlegte Kim, ob sie zum Aufwärmen zurück zur Talstation fahren sollte, entschied sich dann aber doch, weiter hochzufahren.

 

Diesmal saßen sie zu dritt in einer der kleinen Gondeln, die aus dem gleichen Gebäude starteten.

Sobald sie dieses verlassen hatten, brachte der Wind die Kabine derart zum Schwanken, dass Kim mit der Schulter gegen ihren Nachbarn prallte.  Der andere der beiden Männer schob das kleine Fenster nach oben, wodurch das laute Pfeifen ein wenig nachließ.

Grinsend schaute Kim die beiden an und sagte:

„Schön, zwei starke Männer dabei zu haben! Ich hoffe, ihr beide seid Cowboys, das sieht nach einem ziemlich wilden Ritt aus! Ich bin übrigens Kim.“

Ihr Gegenüber schien von der Situation alles andere als belustigt und sagte mit wütender Stimme: „Auf diese Art von Ritt kann ich verzichten! Wieso haben die Idioten uns überhaupt losfahren lassen, das ist unverantwortlich! Und ich habe Höhenangst!“

Mit jeder Schaukelbewegung wurde er ernster und ein wenig bleich noch dazu.

Der Mann neben ihr schien zwar auch beunruhigt, hatte aber immerhin die Kraft, sich vorzustellen: „Hallo Kim, ich bin Erik. Freut mich, dich kennenzulernen, wenngleich mir ein etwas weniger begleitendes Drama lieber gewesen wäre!“

„Benedict“, sagte der andere knapp.

Na toll, dachte Kim bei sich, von wegen starke Männer, ich bin scheinbar am wenigsten verängstigt.

 

Im gleichen Augenblick blieb die Gondel stehen.

Das heißt, es gab keine Vorwärtsbewegung mehr, denn seitwärts pendelten sie dermaßen, dass sie sich alle drei in jede Richtung abstützen mussten, um nicht von den Sitzen zu rutschen.

Dabei kam es zu mehrfachen Berührungen von Armen und Beinen, die jeder aber ohne Kommentar hinnahm. Derart verankert konnte man das Geschaukel ertragen, wenn auch das damit einhergehende Quietschen und Stöhnen der Struktur beängstigend war.

„Ich bin ja nur froh, dass wir in der Schweiz sind“, sagte Benedict, „die Seilbahn dürfte zumindest gut gewartet sein und gut gebaut. Machen sie ja schon lange genug!“

Das Schneetreiben war inzwischen so dicht, dass sie weder die Gondel vor noch hinter sich sehen konnten.

Ein Glück aber, dass sie nicht neben einem Pfeiler zum Stehen gekommen waren, sie hörten das Scheppern einer anderen Gondel, die gegen etwas knallte.

Alle drei zückten gleichzeitig ihr Telefon, nur um sich gleich darauf kopfschüttelnd anzusehen: kein Netz.

Sie versuchten zu erkennen, wie hoch sie über dem Boden waren, zwischen zwei Schneeböen, aber es sah auf jeden Fall zu hoch aus, um zu springen oder sich abzuseilen. Ganz abgesehen davon, dass es kein Seil gab!

 

„Dann können wir nur hoffen, dass es irgendwann weitergeht“, sagte Erik, „die Nacht könnte echt ungemütlich werden! Ist dir kalt?“, fragte er Kim.

„Alles gut“, sagte sie, „den Anzug habe ich vor zwei Jahren für eine Reise nach Sibirien gekauft, wir waren Motorschlitten fahren auf einer Datscha bei Novosibirsk. Der hält bis minus 30 Grad!“

Die beiden schauten sie bewundernd an, fragten abwechselnd nach, jeder erzählte ein wenig, man lernte sich kennen, eine etwas bessere Stimmung entstand, trotz des Pfeifens und Schaukelns.

Sie hatten ihre Helme abgenommen, und Kim sah von einem zum anderen. Erik war etwa so alt wie sie, um die dreißig, Benedict vielleicht zehn Jahre älter.

Er hatte einen ganz leichten französischen Akzent, während Erik wohl ein local boy war, aber mit gutem Hochdeutsch, von der Arbeit, tippte sie.

„Wenn du in Sibirien zurechtkamst, hast du wahrscheinlich auch hier eine clevere Idee?“, sagte er mit einem kleinen Lächeln, „mir wird nämlich jetzt schon kalt!“

Darauf zog Benedict, ohne zu zögern, einen silbernen Flachmann aus einer Brusttasche des Anoraks, und sie nahmen alle einen kleinen Schluck – sehr guter Kirsch.

Dabei sahen die Männer sich abschätzend an, ein kleiner Wettkampf lag in der Luft, und Kim empfand die Aufmerksamkeit als eine wohltuende, warme Welle.

 

Nun schauten sie sich die Gondel näher an. Es gab natürlich keine Verbindung zur Talstation. Nach einigen Versuchen fand Erik aber einen Weg, die Schiebetür zu entriegeln. Vorsichtig schob er sie auf, und sie blickten nach unten, während Benedict sich in die hinterste Ecke klammerte und der Wind mit voller Wucht in die Kabine blies. Erik schob sie schnell wieder zu, nachdem Kim und er erkannt hatten, dass es zum schneebedeckten Boden mindestens zehn Meter waren, ein Sprung war ausgeschlossen.

Erik rückte etwas näher an sie heran, sie spürte seinen Oberschenkel und konnte sein Parfum riechen – gut, vielleicht Hermès?

Sie fand es jedenfalls nicht unangenehm, vielleicht wärmte man sich so gegenseitig.

Benedict schien sich eher an etwas festhalten zu wollen, er rückte etwas nach vorne und legte seine Hände auf Kims Knie, wie um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

„Erzähl ein wenig von dir“, sagte er, in ihre Augen schauend, „was machst du, wo bist du her, wo lebst du, und mit wem?“

„Oh, Monsieur Benedict“, antwortete sie belustigt, „Sie wollen aber viele Dinge wissen! Nun, ich bin in der Schweiz groß geworden, und im Winter kam ich mit meinen Eltern hierher, wir hatten ein Haus über dem Suvretta Hotel. Jetzt lebe ich in Frankfurt, wo ich in einer Werbeagentur arbeite.“

„Und jetzt ein paar Tage in den Bergen, um kreative Energie zu tanken? Alleine, weil dein Freund wahrscheinlich Banker ist und gar keine Zeit hat für dich, neben der Arbeit?“

Erik bewegte sich neben ihr, drückte sein Bein ein wenig stärker gegen ihres.

„Ich glaube, dass Kim ganz gerne Dinge alleine unternimmt, stimmt’s? War der Kerl in Sibirien dabei? Nein? Dachte ich mir. So ein Dummkopf!“

Jetzt musste Kim laut lachen, schaute erst Erik, dann Benedict belustigt an:

„Nicht schlecht, ihr zwei, fast alles richtig geraten! Ich bin mir tatsächlich nicht sicher, ob mein Banker der Richtige für mich ist, und genieße schon immer meine Freiheit und Unabhängigkeit. Und hier oben ist schon die Luft so, dass man klarer im Kopf wird!

Außer man ist mit zwei Unbekannten in einer winzigen Kugel eingesperrt! Könnten die Herren auch ein wenig von sich preisgeben? Monsieur? Nun?“

Ein weiterer, noch stärkerer Windstoß brachte die Gondel fast in die Horizontale, Benedict schrie auf. Kims und Eriks Kopf wurden zusammengedrückt, und da sie sich gerade anschauten, ergab sich eine Art Kuss, wenn auch ein etwas schmerzhafter.

Erik legte aber, wie um sich festzuhalten, seine Hand hinter ihren Hals, zog sie zu sich und küsste sie weiter. Das und Benedicts Hände, die sich sachte auf der Innenseite ihrer Schenkel hinaufbewegten, erzeugten ein wahres Neuronenfeuer in Kims Kopf, sie ergab sich ihm und genoss einfach den Moment. Der andauerte, anschwoll, immer intensiver wurde, bis sie tatsächlich mit einem kleinen Schrei, nun ja, kam.

 

Die Welt stoppte für einen Augenblick, es wurde still, nichts schaukelte, nichts pfiff. Die drei verharrten ebenfalls unbewegt, Benedict zog ganz vorsichtig seine Hände zurück, bis sie wieder auf Kims Knien lagen. Erik hielt weiterhin Kims Hals von hinten und ließ seine Stirn an ihrem Kopf ruhen. Sie atmeten still, die Augen geschlossen. Ein kleines Wunder.

Aber wie ein geworfener Stein Wellen im See erzeugt, die bis zum Ufer kommen, schien das Feuerwerk an Energie aus der Gondel hinauszusprühen, an den Kabeln entlang, bis zu beiden Enden.

Die Gondel setzte sich in Bewegung.

Kim öffnete die Augen, gab Erik einen Kuss auf die Wange und danach auch Benedict.

Sie lachte, erst verhalten, dann laut, natürlich, voller Freude und scheinbar ohne Beschämung, bis sich auch auf den Gesichtern der Männer ein Grinsen einstellte.

Jeder lehnte sich zurück, sie schauten sich an, und Kim sagte endlich:

„Das werde ich euch nie vergessen! Ihr seid … wundervoll! Danke!“

Jetzt machte sich eine Ausgelassenheit breit, alle lachten, die Männer bemerkten abwechselnd etwas über den Start der Bahn, über den nachlassenden Wind, über die bessere Sicht.

Kim war nun doch ein wenig verschämt, sie schien in sich zu blicken, sich selbst erklären zu wollen, wie so etwas denn passieren konnte, die Situation, die Anspannung, ihr Bedürfnis.

Da sagte Benedict leise, aber bestimmt: „Wir werden das ganz genau so handhaben, wie DU willst, Kim. Es ist nie passiert, und jeder geht seiner Wege. Oder ich darf euch nach der nächsten Abfahrt zum Mittagessen einladen, ich fände sogar ein Glas Champagner angebracht. Kim entscheidet – nicht wahr, Erik?“

„Natürlich“, antwortete dieser, blickte Kim dabei aber sehnsüchtig an.

Kim schaute vom einen zum anderen, ihr schönstes Lächeln erschien, und sie sagte:

„Jeder seiner Wege? No, no, no! Der Champagner ist genau richtig, wobei ich diejenige bin, die einladen sollte, oder? Wir haben aber auch unsere Rettung zu feiern und werden die Bläschen als Guides für unsere weiteren Wege nehmen, einverstanden?