, , , ,

Leidenschaft oder Langeweile?

Mancher Mensch empfindet sie, manch einer nicht: Lei-den-schaft nach einem Menschen, eine Passion für etwas, was man sich immer wieder zu verschaffen, was man zu besitzen sucht, eine Tätigkeit, der man sich mit Hingabe widmet. Ist sie Fluch? Oder gar Segen? Und ist der Grat dazwischen nicht oft sehr schmal?

Habt ihr sie je erlebt? Diese Begegnung mit einem Menschen, die unser Herz von einer auf die andere Sekunde entflammt? Magische Momente, Augenblicke, die so tief gehen, dass nichts mehr ist, wie es war? Vorsicht: Suchtpotenzial! Wer einmal diesem süßen Verlangen erlegen ist, der will es immer und immer wieder spüren.  Das Begehren nach einer Liebe, die so tief ins Herz schneidet, dass es schmerzt … Sie gleicht einem „Wake Up Call!“ Katapultiert uns hinaus aus der „Komfortzone“, in der wir es uns kuschelig und bequem eingerichtet haben. Stellt unsere Werte, unsere Glaubenssätze, unser Leben, unsere Prinzipien, unsere Beziehungen infrage. Was tun, ihr folgen? Oder besser im Gefängnis unserer Ängste, Zweifel und Vorbehalte verweilen? Die Antwort wissen wir nicht. Wir können nicht Lebensentscheidungen und deren Auswirkungen miteinander vergleichen. In meinem Lieblingsroman, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins von Milan Kundera, steht Tomas, ein leichtlebiger Arzt, nachdenklich am Fenster. Er überlegt, ob er es zulassen kann, dass Teresa, eine schwermütige Krankenschwester aus der Provinz, in seine leichtsinnige Existenz tritt. Seine Erkenntnis: „Der Mensch kann nie wissen, was er wollen soll, weil er nur ein Leben lebt und keine Möglichkeit hat, es mit seinen früheren Leben zu vergleichen oder es in seinem späteren Leben zu ändern.“

Leidenschaft ist Fluch & Segen. Schönheit & Grausamkeit! Ein Geschenk & eine Strafe zugleich! Denn sie hat, wie eigentlich alles im Leben, zwei Seiten. Zum einen verleiht sie uns Momente gefühlter Unsterblichkeit. Wir lassen uns fallen, in einen herzzerreißenden Rausch aus Gefühlen. Verzehren uns nach einem Menschen, in dem wir uns selbst zu erkennen meinen. Wir brennen. Körperlich, im Herzen, werden eine Fackel der Gefühle. Wir wollen immer mehr von diesem „Brennstoff für das Herz“. Leidenschaft hat allerdings auch Zerstörungspotenzial. Denn sie reißt uns hinfort von dem gefühlt sicheren Hafen in einen Strudel der Gefühle. Manch leidenschaftliche Liebe endet tödlich, siehe Romeo und Julia. Oh, wie schmerzlich schön kann dieses Herzeleid sein. In der Literatur, in der Musik, der Oper, wo das Finale oft in den Tod mündet. Sollen wir dieses Risiko eingehen? Oder lieber das Gegenteil der Leidenschaft wählen? Was ist überhaupt das Gegenteil der Leidenschaft?

Die Langeweile

Langeweile ist das unangenehme Gefühl der Unzufriedenheit. Mit sich, seinem Leben, seiner Liebe. Die Unmöglichkeit, eine zufriedenstellende Aktivität ausführen zu wollen, aber nicht zu können. Langweile nagt an unserer Seele. Sie mündet in Leere, die Absenz der Sinnhaftigkeit unserer Existenz macht müde, depressiv und leblos. In Liebesbeziehungen, die von Vertrautheit und Ritualen heimischer Häuslichkeit geprägt sind, ist die Leidenschaft, auch wenn sie zu Beginn einer Verbindung einmal heftig loderte, eingeschlafen. Sie wiederzuerwecken, ist schwierig. Wie ein Feuer entzünden, dessen Flamme verloschen ist? Doch die Sehnsucht nach der Leidenschaft, nach einem sinnerfüllten Leben, einer Liebe, die „bigger than life“ ist, sie gehört zum Menschen. Viele Lieben überleben diese kognitive Dissonanz zwischen dem sich Sehnen nach Sicherheit und Begehren nach Leidenschaft nicht. Eine Scheidungsrate von fast 50 Prozent belegt, wie schwierig es ist, diese Gratwanderung zwischen Leidenschaft und Langeweile zu meistern. Die meisten Paare können ein Lied davon singen. Doch der Dolchstoß der Liebe in Vertrautheit ist nicht nur die Leidenschaft beziehungsweise der Mangel an Leidenschaft.

Laut einem aktuellen Artikel aus dem Zeitmagazin vom 10. Dezember 2022 von Robert Sternberg braucht eine Beziehung Nähe, Leidenschaft und eine Entscheidung. (®Marc A. Sporys/unsplash.com)

Die Entscheidung

Unter Entscheidung versteht man die Wahl einer Handlung aus mindestens zwei vorhandenen potenziellen Handlungsalternativen unter Beachtung der übergeordneten Ziele. (Wikipedia)

In der Liebe bedeutet Entscheidung: die Entscheidung, sich zu binden. Kommen wir wieder zu Milan Kunderas unerträglicher Leichtigkeit des Seins: Genau die Unfähigkeit von Tomas, sich wirklich für die Beziehung mit Teresa zu entscheiden, führt zu dem konfliktreichen Liebesdrama, zu dem der Roman sich entwickelt. Großartig. Unterhaltsam. Tragisch. Eine „Opera d’Amore“. Aber wollen wir das im wahren Leben?

Gibt es die „vollkommene Liebe“ und was macht sie aus?

Die Theorie von Robert Sternberg lautet: „Die drei Faktoren einer gelungenen Liebesbeziehung lauten: Vertrautheit, Leidenschaft und die Entscheidung, sich zu binden.“ Verkompliziert wird dies dadurch, dass jeder Mensch unterschiedliche Prioritäten setzt.

Wollen wir wirklich Vollkommenheit in der Liebe?

Vollkommenheit bezeichnet einen Zustand, der sich nicht noch weiter verbessern lässt. Makellosigkeit. Wer von uns hat eine solche Liebesbeziehung jemals geführt? „Ver-lieben“ wir uns nicht gerade in die Ecken und Kanten, in die Fehler und Macken unseres Partners?

Macht das eine Beziehung nicht auch spannend und schürt wiederum die Leidenschaft? Ist das Streben nach Perfektion nicht genau das, womit Langeweile entsteht? Ist Makellosigkeit wirklich begehrenswert? Ich plädiere für NEIN! Zumal es wirkliche Makellosigkeit gar nicht gibt.

Finden wir uns also damit ab: Es gibt kein Rezept für „vollkommene Liebe“. Ich stimme Robert Sternberg zu: „Was ist das Wichtigste, um miteinander glücklich zu sein? Jemanden zu finden, der die gleichen Bedürfnisse nach Intimität, Leidenschaft und Bindung hat. Es geht darum, jemand Gleichgesinnten zu finden.“

Wobei allzu viel Gleichgesinntheit doch auch wieder zu Langeweile führen kann. Das richtige Verhältnis zwischen Leidenschaft und Vertrautheit ist fragil, schwer über die Jahre zu bewahren, und Entscheidungen des Herzens werden manches Mal infrage gestellt. Es ist nun mal so: Liebe und Leidenschaft gehören zu den großen Themen der Menschheit. Ohne sie würden Wege nicht beschritten, Lieder nicht gesungen, Bücher nicht geschrieben werden.

Wie wäre das Leben doch langweilig, gar fade, ohne die Opera d’Amore!