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Attraktiv ist viel mehr als sexy

Gestern saßen wir im Straßencafé und sahen den vorüberflanierenden Menschen zu. Wenige waren attraktiv, manche gutaussehend, die meisten wirkten langweilig. Bis dieses Paar vorbeischlenderte, liebevoll eingehakt, er groß, gut gebaut, vielleicht 45, mit ausdrucksvollen, männlichen Gesichtszügen, ein Typ, der wohl bei vielen Frauen bei einem Flirt punkten würde. Sie auch groß, aber vielleicht einen halben Kopf kleiner als er, obelixartig dick (die Form einer zugespitzen Tonne), ein bisschen schmuddelig, vielleicht fünf Jahre jünger und mit einem so dummen Gesichtsausdruck, dass ich zweimal hinschaute, um zu begreifen, dass diese zwei Menschen tatsächlich zusammengehörten.

Was finde ich eigentlich attraktiv?

Spätestens in so einem Augenblick taucht die Frage auf: Wie hat sie ihn gekriegt? Beziehungsweise: Was findet er an ihr? Es dauerte natürlich nur ein paar Sekunden, bis sich die Frage an mich wandte. Was sorgt dafür, dass ich mich für eine Frau spontan interessiere?

Okay, ich will nicht abstreiten, die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale spielen durchaus eine Rolle. Eine 30-Jährige hat deshalb deutlich mehr Chancen als eine 80-Jährige – rein statistisch. Und doch habe ich gestern in einem amerikanischen Video eine ca. 70-Jährige gesehen, die mir viel besser gefiel als ihre deutlich jüngeren Kolleginnen bei der gleichen Veranstaltung. Umgekehrt habe ich immer wieder mit einer Frau im „knackigen“ Alter zu tun, die ich ausgesprochen hübsch finde und die körperliche Merkmale aufweist, auf die ich erregt reagieren müsste. Aber ich tu’s nicht. Seltsam.

Wir tendieren dazu, unsere Neigungen für angeboren zu halten. Aber das sind sie meistens nicht – wenn man mal davon absieht, dass der Fortpflanzungstrieb genetisch verankert sein dürfte, bei den meisten Menschen jedenfalls. Als Beleg für die individuelle Ausprägung unserer Vorlieben möchte ich die Geschichte meines ersten Zungenkusses zum Besten geben.

Mein erster Zungenkuss

Als ich ca. 15 Jahre alt war, gab es in meinem Heimatort Amberg eine Disco, die schon am frühen Abend aufmachte, die man aber erst mit 16 betreten durfte. Irgendwie war es mir trotzdem gelungen reinzukommen. Es gab eine Menge Mädels, die mich antörnten, aber es dauert eine Weile, bis ich den Mut hatte, eine davon aufzufordern (ja, das machte man damals so). Schließlich waren so gut wie alle älter als ich. Irgendwann, es war schon dunkel draußen und die Atmosphäre hatte sich  verdichtet, tanzte ich mit einer Dunklen, die ein, zwei Zentimeter größer war als ich und mich bei langsamen Tänzen zu körperlichen Berührungen geradezu aufforderte. Wir hielten einander, von einem Fuß auf den anderen wippend, also innig umarmt, ihre Brüste berührten köstlich meine Brust, manchmal legte sie ihren Kopf in meinen Nacken, jedenfalls waren sich unsere Köpfe ständig sehr nah. Ein Kuss stand im Raum, ja schien unvermeidlich, aber ich hatte mich noch nie mit einem Mädchen geküsst und war mindestens so aufgeregt wie erregt. Schließlich übernahm sie die Führung. Ihre zarten Lippen sind mir noch ganz gegenwärtig und ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, warum sie bei Kuss den Mund öffnete. Aber schließlich tastete ich mich in ihren Mund vor, wohin mich ihre Zunge lockte. Wie wundervoll! Wir haben uns auf offener Tanzfläche gefühlte zwei Stunden geküsst. Vermutlich waren es fünf Minuten.

Geheime Reize, die niemand kennt

Und was hat das nun mit meiner Einleitung zu tun? Nun, wir trafen uns später im Freibad und gingen auch zusammen spazieren, wobei wir immer wieder verborgene Winkel suchten und fanden. Was ich an dem Abend noch nicht bemerkt hatte: Maria, so will ich sie mal nennen, hatte ein richtig kleines dunkles Oberlippenbärtchen auf ihrer dunklen Haut und schöne, schlanke, aber stark behaarte Beine. Seither finde ich diese Merkmale an Frauen attraktiv – bis heute, ja, so ein Flaum kann auf mich geradezu erotisierend wirken.

Die Art und Weise, wie wir bei der Partnerwahl zueinander finden, lässt sich also unmöglich von der persönlichen Geschichte trennen, wenngleich Vorlieben selten so eindeutig ausfallen dürften wie eben geschildert. Sich von solchen Prägungen zu trennen, halte ich für unmöglich. Deshalb kann eine Frau so sexy sein, sich kleiden oder gebärden, wie sie will. Attraktiv ist sie deswegen noch lange nicht. Und ganz sicher gilt das auch umgekehrt.